4000plus: Ein paar warme Worte an Yann Tiersen. Und ein bissl Spott auch.

Stellt euch mal vor, es ist 2001 (die Türme stehen noch) - ihr seid Anfang 30 und habt auf eurer Habenseite folgendes vermerkt: Du bist einer der jüngsten Leiter eines Konservatoriums in Frankreich, check. Du bist ein begnadeter Multiinstrumentalist, schmilzt mit Piano & Geige Löcher in den tristen Alltag, bist aber auch noch ehemaliger Gitarrenlärmer mehrerer Postpunkbands und seit über 6 Jahren machst du dann auch noch facettenreiche, selten formatgeeignete, hinreissende, hartherzverflüssigende, produktivmelancholische Musique, mit der du begeisterte Hallen füllst und alles was diese kartoffeligen Nachbarn zu sagen haben ist – Yann Tiersen, klar! Kenn' ich! Dit is doch dieser dufte Typ, der den Soundtrack für die fabelhafte Welt der Amelie gemacht hat. 

 

Auf Dauerschleife in der Kitschpophölle 

Und ZACK! schon bist du ein musikalisches Klischee, welches bei keiner kitschigen Fremdschamgelegenheit (auch bekannt als Firmenfeiern) fehlen darf – gleich nach den Tangodudes von Gotan Project. Immer nur diese zwei eingängigen Lieder aus diesem variantenreichen Ouevre. Auf Dauerschleife, auf ewig, in der Kitschpophölle. 

Was fühlst du jetzt? Nackten Hass oder schiere Verzweiflung? Du würdest jetzt doch auch auf eine recht menschenbefreite Insel am aller-südlichsten Zipfel Frankreichs ziehen/fliehen, oder? Dorthin, wo es nur noch Gischt & eine alte Diskothek gibt, aus der wir uns ein Studio zimmern!

 

Kopfhörerpoesie zum Tagträumen

Ja, 2001 ist jetzt tatsächlich schon zwanzig Jahre her und seit über zehn Jahren weigerst du dich bei Konzerten auch nur Auszüge aus dem, an sich tollen, aber halt auch quietschdunkelbunten Soundtrack anzustimmen. Stattdessen stehst du lieber mit einer Folkpunkband von den Faröerinseln (Orka) auf der Bühne, bei der der Drummer auf einem brennenden Konglomerat aus Tonnen und Metall herumtobt. Und du? Du spielst statt Geige mit einem Instrument bestehend aus Rohrverkleidungen und Drahtseilen wilde Melodeien. Chapeau! Statt dich dieser absoluten Karrierechance des Feelgoodmusiker zu ergeben, der es tantiemensatt erträgt, dass seine Musik de-kontextualisiert & entkernt wird, bist du in die entgegengesetzte Richtung davon gespritzt. Minimalklassik, noch im mer, immer noch tief im Moll, noch immer Kopfhörerpoesie zum Tagträumen.

Atmosphärisch, verträumte, versponnene Komplettablenker

Klar, Soundtrack-Material gab es noch einiges mehr. Einmal für einen Film über das schlechte doppeldeutsche Erwachen & dann nochmals für eine Dokumentation über einen toten Menschen, den Tante Wiki als „herausragendsten Hochseesegler und innovativsten Konstrukteur von Regatta yachten“ bezeichnet. Ja, das Meer war dir scheinbar schon immer nah. Eines der ersten Alben nanntest du „Le Phare“ (den Leuchtturm). Nautische Minimalklassik, das sanfte Scharren eines Fahrradrads, das weit entfernte Hupen eines Nebelhorns, zwei/drei sanfte Anschläge auf den schwarzweissen Tasten, fertig. Atmosphärische, verträumte, versponnene Komplettablenker. Wie oft musste ich mich nach einer Radfahrt mit deinen Alben auf dem Ohr erst einmal wieder einnorden, mich quasi wach ohrfeigen, und darauf achten nicht am Meer im Kopf sitzen zu bleiben.

Schwermütiger Trübsaljazz

Yann Tiersen, Deine Musik hat sich verändert, wäre überrascht, wenn sie bei dieser Experimentierfreude stehen geblieben wäre. Sie hat sich noch weiter verschachtelt, hat noch mehr Taschenuniversen aus Klang geschaffen, sie ist weniger fordernd, weniger einladend, aber auch sanfter geworden. Dunkler, ja, aber nach diesem Zuckerschockerlebnis war es wahrscheinlich befreiend Hörererwartungen in schwermütigem Trübsaljazz zu ertränken. Ich für meinen Teil freue mich noch immer auf jedes neue Album – wenige andere können dies von sich behaupten und ich kann sagen auch dein neues Machwerk ist Naschwerk für die Ohren. Deinen neusten Ausritt hast du nach einer Kapelle auf der Heimatinsel benannt und lädst alle Hörer ein, dich bei einem Durchschreiten dieser Insel zu begleiten.

Minimalklassik war gestern

Inzwischen könnte ich kaum noch sagen, welcher der sechs auditiven Ausflüge auf der IIle d’Ouessan mir am besten gefiel, aber es ist beeindruckend, dass dieser weniger als 20 Sekunden andauernde Ausbruch in das höhere Tempo diesem einen Lied diesen drängenden, zwingenden Moment gab. Minimalklassik war gestern, heute ist es Minimalatmosphäre. Ein gemeinsames Stück mit Apparat hab ich mir beim zweiten Mal durchhören erträumt & beim vierten Durchlauf dachte ich mir, ach nee, is auch alleine schon verflucht schön. Ich glaube kaum, dass dieses Album auf der Bühne funktionieren kann, es ist zu klein, zu intim, zu einsam, zu sehr beseelt von den Winden der „Finistère“, das Ende der Welt – weniger abgründige Poesie geht eigentlich nicht bei der Wohnortwahl, oder? Trotzdem ist dein Ansatz jetzt deutlich weniger fieldrecording'esk als noch bei „Tempelhof“ oder vielleicht doch? Ist dieser kleine Garten mitten im Beton der Stadt so viel lauter als diese Insel mitten im lärmenden Ozean – ich denke ich kann diese Frage erst abschliessend beantworten, wenn ich diese Insel besuche, solange dient mir dein neues Album als Audioguide & ja, verdammt ich liebe es!

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